ZEIGT GRÜNEWALDS BILD DES HEILIGEN CYRIAKUS EINE MITTELALTERLICHE FORM DER SCHOCKTHERAPIE?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Abbildung 1: Mathias Grünewald: Heiliger Cyriakus, obere Tafel eines festen Flügels vom Heller Altar,1509. Frankfurt/M. Städelsches Kunstinstitut.

 

 

 

 

 

Eine psychiatrisch-medizinhistorische Untersuchung zu Grünewalds Gemälde des Heiligen Cyriakus im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt am Main.

 

  

   

Das Bild, das hier untersucht werden soll, hängt im Städelschen Kunstinstitut Frankfurt am Main (Abbildung 1). Es handelt sich um eine auf Tannenholz gemalte Grisaillen-Malerei auf ockergelber Grundierung in der Größe von 99,8 x 43,8 cm. Ursprünglich war das Gemälde größer, es ist in späterer Zeit auseinander gesägt worden; auf dem unteren Teil des Gemäldes, welches sich seit 1971 in der Staatlichen Kunsthalle Karlsruhe befindet, ist eine heilige Märty­rerin dargestellt, bei der es sich möglicherweise um die Heilige Lucia oder Ottilie handelt (siehe Abbildung 2).1

Diese beiden Darstellungen bildeten gemeinsam mit den Bildnissen zweier anderer Heiliger, der Heiligen Elisabeth (siehe Abbildung 3) und des Heiligen Laurentius (siehe Abbildung 4), die Standflügel zu einem Gesamtaltar, der sich ursprünglich in der Dominikaner-Kirche zu Frankfurt befand.2

Auch die Heilige Elisabeth und der Heilige Laurentius waren auf eine Tafel gemalt, die in späterer Zeit auseinander gesägt wurde. In der kunsthistorischen Forschung konnte bisher nicht geklärt werden, welches Altarbild diese Standflügel einrahmten. Allgemein werden sie zu Dürers so genanntem Heller-Altar angesehen, was aber immer wieder bestritten wird (siehe Abbildung 5).3

Als Auftraggeber des Altars wird der Frankfurter Bürger Jakob Heller angesehen.

Heller hatte das Amt eines Armenpflegers der Stadt Frankfurt inne.4

Als Entstehungsjahr wird das Jahr 1509 angenommen. 5

Anzumerken wäre noch, dass die Bezeichnung des Bildes am unteren Bildrand mit dem Namen S. Cyriakus erst in späterer Zeit hinzugefügt wurde.6

Über den Heiligen Cyriakus findet sich in der Legenda aurea, einem viel gelesenen Werk des Mittelalters, folgendes: "Nun geschah es aber, dass Artemia, des Kaisers Diocletiani Tochter, besessen war von dem bösen Geiste, und schrie der Teufel aus ihr und sprach: 'Ich gehe nicht von ihr, es sei denn, dass Cyriakus käme, der Diakon'. Also ward Cyriakus zu ihr geführt und gebot dem Teufel, dass er ausführe. Der antwortete: 'Willst Du, dass ich ausgehe, so gib mir ein Gefäß, darein ich fahre'. Sprach Cyriakus: 'Das ist mein Leib; fahre hinein, so Du magst'. Antwortete der Teufel: 'In das Gefäß mag ich nicht fahren, denn es ist nach allen Seiten gezeichnet und beschlossen. Doch wisse, vertreibst Du mich hie, so will ich Dich zwingen, dass Du musst kommen nach Babylonien'. Hiermit fuhr der Teufel aus. Da schrie Artemia mit lauter Stimme und sprach: 'Ich sehe den Gott, den Cyriakus prediget'." Und weiter heißt es: "Es kam ein Bote vom Perserkönig zu Diocletiano, und bat ihn, dass er ihm den Cyriakus sende, denn seine Tochter sei besessen von dem bösen Geist. Cyriakus fuhr dort hin. Als er zu der Königstochter kam, sprach der Teufel aus ihrem Mund: 'Bist Du nun müde, Cyriak'? Antwortete Cyriakus: 'Ich bin nicht müde, denn die Gotteshilfe ist mit mir an allen Enden'. Sprach der Teufel: 'Dennoch habe ich Dich hierher gebracht, als ich Dir gelobet habe'. Da sprach Cyriakus zu ihm: 'Mein Herr Jesus Christus gebietet Dir, dass Du ausfahrest'. Alsbald fuhr der Teufel aus und schrie: 'Oh wie ist dies ein so furchtbarer Name, der mich zwingt, dass ich muss ausfahren'. Also war die Jungfrau gesund und Sankt Cyriakus taufte sie mitsamt ihren Eltern und vielem anderen Volke. Cyriakus kehrte nach Rom zurück, etwas später starb Diocletianus, und Maximianus folgte ihm nach. Der war erzürnt über seine Schwester Artemia und hieß Cyriakum greifen und ihn mit Ketten gefesselt, nackend vor seinem Wagen einher führen. Maximianus gebot seinem Sadthalter Carpasius, dass er Cyriakum mit seinen Gesellen zu der Götter Opfer zwänge oder mit scharfer Pein töte. Also goss er siedend Pech über das Haupt des Heiligen und band ihn auf die Folter, und ließ ihn damals enthaupten mit allen seinen Gesellen.7

In späterer Zeit wurde Cyriakus dann von der Kirche heilig gesprochen. Es gibt mehrere Heilige des Namens Cyriakus. Unter die 14 Nothelfer zählt der römische Diakon, dessen Legende hier dargestellt wurde. Er hat in der Diocletianischen Christenverfolgung den Tod erlitten. Er gilt als Patron gegen böse Geister und gegen Dämonen und gegen Besessenheit, und man rief ihn auch an gegen Versuchungen in der Sterbestunde. Bereits in den ältesten Kölner Festkalendern wird er erwähnt. Seit dem 10. Jahrhundert gelangten seine Reliquien nach Deutschland, ein Arm durch Otto den Großen nach Bamberg, andere nach dem Collegiatsstift Sanct Cyriak in Neuhausen bei Worms und dem Kanonissenstift Gesicke in Westfalen sowie nach Altdorf im Elsaß. In Württemberg wurde ihm das Stift Wiesensteig geweiht. In der Diözese Würzburg und im ganzen Frankenland wuchs sein Ansehen nach einem Sieg bei Mühlberg, der im Jahre 1266 am Namenstag des Heiligen erfochten wurde.8

In der christlichen Kunst des Mittelalters gibt es zahlreiche Darstellungen des Cyriakus aus mittel- und oberrheinischem Gebiet. Stets wird er als Diakon mit der Dalmatik bekleidet darge­stellt. Meist trägt er ein Exorzismenbuch, gelegentlich eine Palme und ein Schwert. Seine individuellen Attribute sind einerseits die Artemia-Figur, aber auch häufig der Teufel oder ein gefesselter Drachen zu seinen Füßen.9

Auf Grünewalds Bild sieht man Cyriakus stehend, die Prinzessin Artemia kniet neben ihm, ihre Krone liegt zwischen ihr und Cyriakus auf dem Boden, als sei ihr diese vom Haupt gefallen. Auf seinem linken Arm trägt Cyriakus ein aufgeschlagenes Exorzismenbuch mit der Beschwörungsformel: "Auctoritate domini nostri Jesu Christi exorceo te per ista tria nomina. In Nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti. Amen."

(In Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus treibe ich Dich aus durch diese drei Namen. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.)

Cyriakus hat das Gesicht eines jungen Mannes und es hat den Anschein, als ob er Artemia sehr genau beobachtet. Er trägt eine Dalmatika, die Grünewald in eher barocker Manier gemalt hat. Am Kragen seiner Dalmatika befinden sich rechts und links zwei Schmuckstücke. Das linke ist eindeutig als eine stilisierte Hopfenblüte zu erkennen, woran sich noch Blätter befinden, sowie möglicherweise zwei stilisierte K1eeblätter. Das rechte Schmuckstück lässt sich nicht so eindeutig bestimmen. Im Hintergrund des Bildes, über und neben dem Cyriakus sieht man die Blätter und Früchte eines Feigenbaumes.

Um seine Schultern, mit langen Fortführungen über beide Arme, trägt Cyriakus eine Stola. Das rechte Ende der Stola ist um den Hals der Prinzessin gelegt. Cyriakus drückt mit seinem rechten Daumen, der dabei überstreckt ist, auf Artemias Kinn. In der Hand, mit den gebeugten vier Fingern, hält er die Stola.

Artemia, im typischen Kleid der Renaissance, kniet vor Cyriakus. Ihr Kopf ist leicht zurückgebeugt, das Haar ist kurz geschoren, die Augen sind halb geöffnet, die Augenbulbi sind nach lateral (seitlich) verdreht, der Mund ist leicht geöffnet, die Arme der Prinzessin sind in den Ellenbogengelenken gebeugt. Die linke Hand ist palmarflektiert (handwärts gebeugt), während die rechte dorsal-extendiert (handrückenwärts gebeugt) ist. Die Finger beider Hände sind deutlich überstreckt, besonders extrem der kleine Finger der linken Hand. Lediglich der kleine Finger der rechten Hand ist in Beugestellung.

Grünewald war, wie viele Maler seiner Zeit, über verschiedene Krankheiten sehr kundig unterrichtet und verfügte desgleichen über ein profundes Wissen der jeweiligen Therapieform der Krankheiten, die er dargestellt hat. Dies ist medizinhistorisch besonders gut an seinem Hauptwerk, dem Isenheimer Altar, erforscht, der sich heute in Colmar im Museum Unterlinden befindet. Grünewald hat umfassende Studien inmitten der Kranken und der pflegenden Mönche des Klosterspitals Isenheim getrieben, welches dem Antoniter-Orden angehörte. Dieser Orden kümmerte sich insbesondere um die Kranken, die unter der im Mittelalter weit verbreiteten Krankheit des Ignis sacer, welches auch Antoniusfeuer genannt wurde, litten. Grünewald hat auf der Tafel der "Versuchung des Antonius" links im Vordergrund eine Figur gemalt, auf der Medizinhistoriker ein synthetisches Abbild der drei damals wesentlichen Volksseuchen, des Ignis sacer, der Syphilis und möglicherweise auch der Pest erkannt haben (siehe Abbildung 6). Auf der "Eremitentafel" des Isenheimer Altars

hat Grünewald die damals gebräuchlichsten Heilkräuter gegen das Antoniusfeuer dargestellt (siehe Abbildungen 7 und 8).

Von den vierzehn verschiedenen Pflanzen, die sich auf dem Gemälde bestimmen lassen, sind acht jeweils in mehrfacher Erwähnung in verschiedenen Kräuterbüchern der Zeit als spezifisches Heilmittel gegen das Antoniusfeuer genannt worden. Die restlichen sechs Pflanzen sind jedoch ebenfalls in ausreichender Häufigkeit als Heilkräuter erwähnt, deren Gebrauch bei der Behandlung von "Brand, Wundfäule und veralteten Geschwüren" angeraten wird; ihr Indikationsbereich steht also engstens mit der ersten Gruppe in Verbindung, da diese Symptome zum Erscheinungsbild dieser Krankheiten gehörten.10

Auch auf dem Cyriakus-Bild stellt Grünewald in komplexer Form eine Vorgehensweise seiner Zeit bei der Behandlung einer, wie man im Mittelalter sagte, "Besessenheit" dar. In der kunst- und medizinhistorischen Forschung heißt es immer wieder, dass auf diesem Gemälde ein Exorzismus einer Epileptikerin dargestellt werde.11

Gegen die Diagnose Epilepsie lässt sich sehr viel einwenden. Viel eher ist anzunehmen, dass es sich bei der hier abgebildeten Kranken um eine Frau handelt, die an einer psychotischen Depression oder an einer Schizophrenie gelitten hat, um es in unserer heutigen psychiatrischen Terminologie auszudrücken. Auch im Mittelalter traf man Unterscheidungen zwischen der Epilepsie und psychischen Erkrankungen, die wir heute als Psychosen bezeichnen. Die entsprechenden Beschreibungen im Neuen Testament der Bibel, durch die das therapeutische Vorgehen im Mittelalter wesentlich geprägt wurde, spiegeln diese unterschiedlichen Krankheitsbilder wieder. So kann als Darstellung der Epilepsie in der Bibel die Geschichte des fallsüchtigen Knaben gelten, 12 während die Heilung des Besessenen von Gerasa (siehe Abbildung 9) als Beschreibung einer Psychose angesehen werden kann.13

Diese verschiedenen "Besessenheiten" der Epilepsie und der Psychose kommen im christlichen Exorzismus des Mittelalters unter anderem auch dadurch zum Ausdruck, dass der Exorzist mit dem "Bösen Geist" des "Besessenen" eine größere Zwiesprache hält als bei dem Fallsüchtigen, wie es sich ja auch in den zitierten Bibelstellen lesen lässt. Bei der Epilepsie handelt es sich um einen "sprachlosen Geist". Grünewald bezieht sich auf seinem Bild auf die Vita des Heiligen Cyriakus, wie sie in der Legenda aurea beschrieben ist. Es werden in dieser Geschichte weder bei der Artemia noch bei der Tochter des Perserkönigs Symptome beschrieben, die auf eine Epilepsie schließen ließen. Cyriakus hält Zwiesprache mit dem Dämon der Artemia und der Tochter des Perserkönigs, ähnlich wie Jesus mit dem "Besessenen" von Gerasa.

Zur Krankheitslehre des Mittelalters müssen wir uns noch folgendes vergegenwärtigen: Im Hoch- und Spätmittelalter werden für nahezu alle Krankheiten, die in der älteren Zeit mit Zaubersprüchen und magischen Heilbehandlungen bekämpft werden, schulmedizinische Heilmethoden eingeführt, so dass wir für viele Krankheitsfälle magische und chirurgische oder medikamentöse Behandlungsverfahren nebeneinander nachweisen können.14

Da im folgenden der Begriff Melancholie genannt wird so sei hierzu erwähnt, dass dieser Begriff im Mittelalter nicht im Sinne unserer heutigen Depression verwandt wurde, sondern auch Krankheitsformen beinhaltetet, die wir heute der Schizophrenie oder der Psychopathie zurechnen würden.15

Zunächst einige Betrachtungen über die in diesem Bilde dargestellten Pflanzen: Nach alttestamentlicher Vorstellung versinnbildlicht der Feigenbaum den Frieden des messianischen Reiches (Micha 4, Vers 4), der auch der armen besessenen Königstochter Artemia zu Teil werden soll. Hildegard von Bingen empfiehlt die Frucht für den gesunden Menschen nicht, dagegen für den Kranken. "Dem Kranken aber, der körperlich leidet, ist sie gut zur Speise, weil er an Geist und Körper schwach ist, und jener verzehre sie, bis es ihm besser geht, und später meide er sie."

Der besänftigende Charakter des Feigenbaumes wird ferner von Konrad von Megenberg betont: "Er (Isidor) spricht auch, daz der Veigenbaum so grozer kraft sei, pinde man ainen gar wilden grimmen Ochsen dar an, er werd zam und sänftig."

Für Pestilenz und Epilepsie empfiehlt sie der "Gart der Gesundheit": "Und synt auch gut epilenticis des ist die fallenden siechtagen haben...       ."16

 

Es kommt einerseits durch die Bemerkungen Hildegards von Bingen deutlich zutage, dass der Feige Heilkräfte für geistige und körperliche Schwäche zugestanden werden. Dass auch das Zitat von Konrad von Megenberg hier angeführt werden kann, kann damit begründet werden, dass die Medizin dieser Zeitepoche, die mit abergläubischen Ritualen durchsetzt war, so argumentierte, dass das, was für einen wilden grimmigen Ochsen gelten kann, der zahm und sanft wird, genauso auf einen sehr wilden Menschen zutreffen kann, wie es psychisch Schwerkranke mitunter sein können. Man sollte sich auch nicht daran stören, dass hier mehrere Krankheiten genannt werden, die mit der Frucht der Feige behandelt werden. Das ist eine typische Vorgehensweise der Kräutermedizin des Mittelalters, 17

davon abgesehen werden auch heutzutage mitunter dieselben Medikamente für verschiedenartige Krankheiten gleichermaßen eingesetzt.

Auch die stilisierte Hopfenblüte, die der Cyriakus an seiner Dalmatika trägt, hat ihre krankheitsspezifische Bedeutung: Der Kompilator des "Gard" schreibt über die Melancholiebehandlung in Zusammenhang mit dem Hopfen: "Ite Hopfen drybet uß die melancoly das ist das swere geblüde vo dem menschen." 18

Vor der weiteren Interpretation des Bildes ist es notwendig, dass wir uns mit den Exorzismusritualen der Zeitepoche des 15. und 16. Jahrhunderts näher befassen. Die Haare der Artemia sind deshalb kahl geschoren, weil man zu dieser Zeit glaubte, dass die exorzisierten Dämonen, die aus dem "Besessenen" ausgefahren waren, sich zunächst in den langen Haaren verstecken könnten, um dann wieder, nach vollzogenem Exorzismus, in den Kranken hinein zu fahren. Übrigens ragt diese Vorstellung in unsere Zeit hinein, es gibt immer wieder Patienten mit Psychosen, die sich die Haare mit der Begründung abscheren, weil der Teufel daran ziehe.19

Vom 14. Jahrhundert an werden in die "Besessenen-Zeremonien" Vorgehensweisen integriert, die mit magischen Künsten zusammenhängen. So wird beim Exorzismus vorgeschrieben, vor dem Altar auf den Fußboden mit Kreide eine Figur zu zeichnen. Innerhalb dieser Figur sollte der "Besessene", der, an Füßen und Lenden gebunden, am Hals mit einer Stola festgehalten werden musste, hingelegt werden.20

Dass seit dem 14. Jahrhundert magische Künste vermehrt von der Kirche aufgegriffen wurden, könnte damit im Zusammenhang stehen, dass die Kirche zu diesem Zeitpunkt durch das Wüten der Pest in Europa seit der ersten großen Pestepidemie von 1348 deutlich ins Wanken geraten war.21

Der Vollzug der Exorzismen war an Klöstern und Wallfahrtsorten meist bestimmten Priestern übertragen. Nicht jeder Priester war zum Exorzisten geeignet. Das Exorzisieren galt als eine Kunst, die nicht jeder verstand. Es gehörte dazu eine gewisse Kenntnis der Symptome der körperlichen und geistigen Krankheiten, unter welchen die "Besessenen" litten, weiter eine gute Beobachtungsgabe für die während der Beschwörung oft wechselnden Zustände der Kranken.22

Sobald eine Person, die sich "besessen" glaubte, zwecks Heilung um die kirchlichen Beschwörungen bat, wurde von kirchlicher Seite zunächst festgestellt, ob wirklich "Besessenheit" vorhanden war. An vielen Orten wurde der "Besessene" in einen Bottich mit Weihwasser gesetzt, dann angekleidet und exorzisiert. Man schlang nun eine Stola um seinen Hals (siehe Abbildungen 10, 11, 12 und 13), oft eine zweite um seine Lenden, zuweilen sogar eine dritte um seine Beine. Mitunter begnügte man sich auch damit, dem Besessenen lediglich die Stola zu zeigen, ähnlich der Vorgehensweise, dem bösen Geist oder dem Teufel das Kreuz zu zeigen. Dafür als Beleg folgende textliche Darstellung: "Eine Frau, durch vierzehn Jahre von unreinen Geistern geplagt, kam zu einem Priester, sagend: 'ich bin besessen, der böse Geist plagt mich’. Der Priester erschreckt, läuft in die Sakristei, nimmt ein Buch mit Beschwörungsformeln und die Stola, und zur Frau herausgekommen, beginnt er seine Beschwörungen" 23

Dieser Text lässt zwar offen, was der Priester mit der Stola macht, es findet sich aber eine Darstellung in der Eustachiuskapelle in Seitingen. Dort ist dargestellt, wie ein Priester einer Besessenen lediglich die Stola zeigt (siehe Abbildungen 14 und 15). Hier und da war es auch üblich, den "Besessenen" auf die Backen oder in die Seiten zu schlagen.24

Bei Laurentius Beierling heißt es im "Magnun theatrum vitae humanae": "Wollte ein Dämon trotzdem nicht weichen, konnten sogar Schläge und Geißelhiebe, dem Dämon zugedacht, den Besessenen verabreicht werden."

Man kann sehen, dass im Mittelalter und der Neuzeit bei psychisch Kranken zum Teil mit physischer Gewalt vorgegangen wurde, was aus damaliger Sichtweise aber nicht dem Kranken, sondern dem ihm inne wohnenden Dämon galt (siehe Abbildung 18).

Nun heißt es in den Exorzismustexten, dass dem "Besessenen" eine Stola um den Hals geschlungen wurde. Das sieht man auch deutlich auf Grünewalds Gemälde, allerdings in einer vollständig anderen Darstellungsweise als auf den Gemälden, die auf den Abbildungen 10, 11, 12 und 13 wiedergegeben sind.

Dieses Detail bedarf nun einer eingehenden Betrachtung. Vieles spricht dafür, dass die Stola zu einem bestimmten Zweck um den Hals der Artemia geschlungen wurde. Es hat den Anschein, dass Grünewald hier eine kurzzeitige Drosselung der "Besessenen" darstellt. Cyriakus benutzt seinen Daumen als Hypomochlion (Stütze), indem er ihn auf das Kinn der Prinzessin abstützt. Somit ist es ihm möglich, die Stola als Schlinge zu benutzen, die er nach seinem Ermessen eng anziehen und lösen kann, so dass eine vorübergehende cerebrale Hypoxie (Sauerstoffmangel im Gehirn) bei der "Besessenen" verursacht wird. Als weiteres Indiz für eine cerebrale Hypoxie kann die Haltung beider Hände der Artemia gewertet werden. Diese Handhaltungen passen zu keiner klinischen Erscheinungsform der Epilepsie, sondern repräsentieren das Bild einer Athetose.

Die Athetosen gehören zu den Hyperkinesien (überschießende Bewegungen). Es handelt sich um unkoordinierte, komplexe, wurmförmige konfluierende Bewegungen, oft schraubender oder kreisender Art. Diese Hyperkinesien können zwar sämtliche Körpermuskeln ergreifen, Hände und Finger sind jedoch am häufigsten und meist auch am stärksten befallen. Die Finger zeigen neben den eigentlich wurmförmigen oder schraubenden Bewegungen infolge der Tonusvermehrung der Muskulatur oft Stellungsanomalien nach Art der Bajonettstellung mit einer Überstreckung der Grund- und Mittelgelenke sowie einer Beugung der übrigen Gelenke. Abgesehen von einer Vielzahl klinischer Ursachen, die hier nicht weiter zu erörtern sind, entstehen athetotische Symptome unter anderem durch allgemeine cerebrale Hypoxien.25

Auch die Reklination (Rückbeugung) des Kopfes der Prinzessin, sowie ihre verdrehten Augen gehören zu den Folgen dieser kurzzeitigen Drosselung und der daraus resultierenden cerebralen Hypoxie.

Es ist nun die Frage zu stellen, weshalb Cyriakus die Prinzessin Artemia kurzzeitig drosselt, so dass daraus offensichtlich eine Bewusstlosigkeit, die Athetose der Hände, die Reklination des Kopfes und die verdrehten Augenstellungen resultieren, wie es Grünewald hier sehr realistisch dargestellt hat. Bei der Beantwortung dieser Frage können uns die Forensische Medizin, die Neurologie und die Psychiatrie weiter helfen.

Es gibt viele subjektive und objektive Beobachtungen über das Erhängen. Es wurde beispielsweise berichtet, dass es keine Schmerzen oder unangenehme Gefühle, sondern im Gegenteil sogar angenehme Gefühle bei Strangulationen gebe. Schon Hufeland berichtet in seinem Werk: "Die Kunst, das menschliche Leben zu verlängern": "Einer, der sich erhängt hatte und wieder zum Leben gebracht wurde, erzählte, dass er, so wie sich der Strick zusammengezogen habe, gleich in einen Zustand der Bewusstlosigkeit geraten sei, wo er nichts gefühlt habe; nur das erinnere er sich dunkel, dass er Blitze gesehen und dumpfes Glockengeläute gehört habe." 26

Näcke 27 hat sich 1903 in einer ausführlichen Darstellung mit dem subjektiven Leben der Sterbenden befasst und auch über die Selbstmörder, die beim Erhängen abstürzten, berichtet. Auch aus diesen Mitteilungen geht hervor, dass unter der Wirkung des Strangwerkzeuges ein Gefühl der Seligkeit oder Empfindungslosigkeit, "eine Schnelligkeit der Gedanken" und die bekannten Erlebnisse aus dem früheren Leben subjektiv auftreten können (so genannte "Panoramaschau").28

Bei allgemeiner cerebraler Hypoxie kann es nach einer initialen Bewusstlosigkeit zu hirnorganischen Anfällen, Erregungs- und Verwirrtheitszuständen, extrapyramidalen Hyperkinesen, cerebellaren und auch spastischen Symptomen kommen. Manchmal bilden sich die neurologischen und auch die psychopathologischen Veränderungen nur langsam zurück. Bei manchen Atemlähmungen äußert sich die Sauerstoffnot des Gehirnes zunächst in einer Euphorie mit einem auffallenden Mangel an Einsicht und Kritik oder umgekehrt in einer weinerlichen Verstimmung und Gereiztheit. Dann folgt eine deutliche Bewusstseinstrübung mit Verwirrtheit und szenenhafter Verkennung der Umgebung.29

Nachdem wir uns nunmehr Klarheit über die vielfältige Symptomatologie einer cerebralen Hypoxie verschafft haben, wollen wir uns nunmehr einem therapeutischen Instrumentarium der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts zuwenden. In der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen sind in der Psychiatrie Behandlungsmethoden eingeführt worden, die als große, somatische, aktive oder Schock-Behandlungsmethoden der Psychiatrie zusammengefasst werden: Die Fieberbehandlung (Wagner-Jauregg,1917), die Schlafkur oder Dauernarkose (Klaesi, 1920), die Cardiazol-Krampf-Behandlung (Meduna, 1934), die Insulinkur (Sakel, 1935) und die Elektro-Schock-Behandlung (Bini, 1937). Von diesen Behandlungsverfahren hat sich die letztere erhalten und wird sehr kontrovers diskutiert. Heutzutage wird sie besonders bei schwersten Depressionen und katatonen Zuständen eingesetzt.30

Die Symptomatologie dieser Behandlungen ist ähnlich, so dass hier nur kurz die Elektrokrampf-Therapie dargestellt werden soll. Mit dieser werden epileptische Anfälle erzeugt, indem mittels eines besonders konstruierten Apparates ein Wechselstrom durch den Kopf geleitet wird. Nebenwirkungen dieser Therapie sind vor allem kognitive Beeinträchtigungen. Es resultieren Störungen der Orientierung, der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, des psychischen Antriebs und des Gedächtnis. Nach der Elektrokrampf-Therapie sind in der Zeit bis zu drei Monaten deutliche Veränderungen im EEG feststellbar. Der neuro-pathologische Befund weist darauf hin, dass die Elektrokrampf-Therapie passagere organische Alterationen verursachen kann.

Wieso sind alle die beschriebenen "großen" körperlichen Kuren bei psychisch schwer kranken Menschen oft wirksam? Eine spezifische oder kausale Wirksamkeit bei psychischen Störungen ist ihnen nach unserem heutigen Wissen abzusprechen. Sie wirken als eine Belastung auf den Organismus ("Stress") und rufen körperliche und psychische unspezifische Anpassungsreaktionen hervor. Hierbei sind veränderte Nebennierenrindenfunktionen am besten bekannt. Vielleicht kommt solchen Vorgängen eine akute therapeutische Bedeutung zu.31

Vergleicht man nun die psychischen und physischen Symptome der "Schock-Therapien" des 20. Jahrhunderts mit der Vorgehensweise im Hochmittelalter bzw. der Renaissance, wie sie auf dem Gemälde Grünewalds dargestellt ist, nämlich einen psychisch schwer kranken Menschen kurzzeitig zu drosseln, so lassen sich unschwer folgende Gemeinsamkeiten darlegen: Es wird eine allgemeine cerebrale Hypoxie schockartig hervorgerufen. Dadurch ergibt sich eine Fülle unspezifischer psychischer und physischer Folgen. Es stellen sich Krämpfe ein, einerseits epileptischer, andererseits tetanischer sowie athetotischer Art. Es gibt Bewusstseinsveränderungen in einem gravierenden Ausmaß. Außerdem finden sich amnestische Symptome. Des Weiteren gibt es psychische Veränderungen der Stimmungslage, die zwischen Euphorie, depressiver Verstimmung, Erregungs- und Verwirrtheitszuständen sowie affektiven Veränderungen mit einem Verlust an Antrieb und Initiative schwanken. Der therapeutische Gewinn zeigt sich in vielen Fällen in einer dramatischen Verbesserung des zuvor lebensbedrohlichen psychopathologischen Zustandsbildes.

Nun ist die so genannte Schock-Therapie keine Erfindung des 20. Jahrhunderts. In seiner Autobiographie berichtet der Wiener Psychiater Julius Wagner-Jauregg, wie er auf die Idee kam, einen malariakranken Soldaten durch eine Impfung zu lähmen. Er zitiert Parmenides, der 500 v. Chr. ausrief: "Gebt mir die Möglichkeit, Fieber zu erzeugen, und ich werde alle Krankheiten heilen!", während Hippokrates auf die heilsame Wirkung von Fieber auf die Epilepsie hinwies.32

Auch Celsus schlägt für psychisch schwer erkrankte Menschen im ersten Jahrhundert n. Chr. grobe Behandlungen vor. Besonders die Aufgeregten, die nicht "Vernunft annehmen" wollen, sollen mit Ketten, Züchtigungen, Schockwirkungen, die durch plötzlichen Schrecken hervorgerufen werden, behandelt werden. "Diese aufrüttelnde Erschütterung reißt sie auf heilsame Art aus ihrem Zustand heraus".33

Auch Scribonius Largus behandelte bereits im Jahre 47 n. Chr. mit den Schlägen elektrischer Aale.34

Ein verbreiteter Volksglaube sagt, dass Geisteskrankheiten durch Erschrecken entstehen und durch Erschrecken wieder kuriert werden können.35

1752 anerkennt die französische Akademie der Wissenschaften, dass ein aus nächster Nähe abgefeuerter Gewehrschuss ein junges Mädchen von Konvulsionen geheilt hat, die jenes sich infolge eines heftigen Kummers zugezogen hatte.36

In Finnland erschreckte man Geisteskranke durch plötzliches Übergießen mit kaltem Wasser, ebenso durch Anschreien, durch rasches Hineinstoßen in Stromschnellen oder in Feuer, auch durch forciertes Erbrechen. Das lasse die bösen Kräfte fliehen.37

Diese Behandlung mit Wasser ist uns auch durch ein Gemälde von Albrecht Dürer überliefert: "Hiob, von seinem Weib verspottet". Dieses Gemälde kann als eine Darstellung eines melancholischen Stupors angesehen werden. Außerdem wird gezeigt, wie dem Stuporösen Wasser übergossen wird, eine übliche Behandlungsmethode bei "Besessenen" in dieser Zeit. Obwohl das Wasser den Leib des Hiob schon berührt, zeigt dieser keine Reaktion, er verbleibt in seinem Stupor (siehe Abbildung 17). Dürer kannte sich in der medizinischen Auffassung seiner Zeit über die Melancholie sehr gut aus (vgl.: Klibansky, R., E. Panofsky und F. Saxl: Saturn und Melancholie).

Johann Christian Reil, Professor in Halle und Berlin, gibt 1803 die folgende Empfehlung: Man ziehe ihn (den Patienten, der Verf.) mit einem Flaschenzug an ein hohes Gewölbe, dass er wie Absalom zwischen Himmel und Erde schwebe, löse Kanonen neben ihm, nahe sich ihm, unter erschreckenden Anstalten, mit glühenden Eisen, stürze ihn in reißende Ströme, gebe ihn scheinbar wilden Tieren, den Neckereien der Popanze und Unholde preis oder lasse ihn auf Feuer speienden Drachen durch die Lüfte segeln.38

Heinroth riet, "den Kranken im Finstern Schläge aus elektrischen, galvanischen Batterien zu geben."39

Bei Kraepelin soll der verwirrte und benommene Kranke durch "erschütternde Stöße auf seine Phantasie gleichsam aus seinem Taumel geweckt werden.40

Van Helmont und Van Swieten rieten, den Kranken so lange unter Wasser festzuhalten, "bis er den Gebrauch der Sinne verliere."41

Der französische Arzt Joseph Grasset empfiehlt in einem Artikel des Jahres 1889 über die Hysterie im Dictionaire Encyclopedie des Science Medicales folgende Vorgehensweise: Man solle die Garotte, eine Würgeschraube, mit der besonders in Spanien die Todesstrafe vollstreckt wurde, anwenden. "Zur Vereitelung eines (hysterischen, d. Verf.) Anfalles diene die von Guenau de Mussy vorgeschlagene Konstriktion des Kehlkopfes: es ist eine Art Strangulation. Man muss damit noch Erfahrungen sammeln, da die Wirksamkeit noch nicht für alle Fälle nachgewiesen ist.42

Franco Basaglia beschreibt in seinem Artikel, "Die Institutionen der Gewalt", aus dem Jahre 1969 folgende Vorgehensweise: "In einer psychiatrischen Anstalt wird ein Kranker, wenn er einen Anfall hat, in den 'Schwitzkasten' genommen. Wer keine Irrenhäuser kennt, weiß nicht, was damit gemeint ist: eine ganz primitive Methode, die man mehr oder weniger überall handhabt. Man versetzt den Kranken in den Zustand der Bewusstlosigkeit, indem man ihm einfach die Luft abwürgt. Man wirft ihm ein - oft nasses - Tuch über den Kopf, so dass er keine Luft mehr bekommt, und zieht es am Hals fest: der Kranke verliert sofort das Bewusstsein".43

Wie könnte man sich die Entstehung dieser speziellen Schock-Therapie, wie sie auf Grünewalds Bild dargestellt und ganz ähnlich von Basaglia beschrieben ist, vorstellen?

Wir wollen versuchen, uns auf etymologischem Wege der möglichen Entstehungsgeschichte zu nähern. Hier wird ja offensichtlich dargestellt, dass Cyriakus die Prinzessin Artemia im wahrsten Sinne des Wortes bändigt. Hierzu sei noch einmal angemerkt, dass Cyriakus des Öfteren mit einem Ungeheuer - einem Drachen - als Attribut dargestellt wird, welches er, anders als z. B. Sankt Georg, der den Drachen mit einer Lanze besiegt und tötet, am Band oder Seil, bzw. an einer Kette hat.

Das Wort bändigen leitet sich von bändig ab, welches sich aus dem Mittelhochdeutschen "bendec" ableitet. Das bedeutet soviel wie festgebunden, ein Band anhabend. Das Wort "bendec" wurde in älterer Waidmannssprache zum Lob des Hundes, der sich gut am "Leitseil" führen ließ, gebraucht. Der Gegensatz mittelhochdeutsch "unbendec" bedeutet "durch kein Band gehalten" und wird zunächst von Hunden an der Koppel gebraucht. Erst später wurde es auf den Menschen, besonders zunächst auf Kinder, übertragen; im 19. Jahrhundert wurde es dann eine literarische Metapher.44

Es kann bei der Hundedressur beobachtet werden, wie die rasendsten und größten Tiere durch die Führung des Halsbandes, welches mitunter so eng angezogen wird, dass die Tiere kurzzeitig keine cerebrale Sauerstoffversorgung haben, zur Räson gebracht werden. Es ist denkbar, dass man im Zuge langsamer empirischer Vorgänge eine Erfahrung, die man bei Tieren gewonnen hatte, auf Menschen übertrug. Dieser Vorgang ist nicht ungewöhnlich, denn im Mittelalter - und sicher auch schon früher - wurden oft dieselben Heilmethoden bei Menschen und Tieren angewandt.45

Für die dargelegte Hypothese, dass der Strick durch die Stola ersetzt wurde, spricht ein Bild, welches sich im Pfarrhaus der Gemeinde Seitingen in Oberschwaben befindet (siehe Abbildung 18). In Seitingen befindet sich die Eustachiuskapelle, ein alter Wallfahrtsort für psychisch Kranke. Auf diesem Bild sieht man, dass der "Besessene" keine Stola, sondern einen Strick um seinen Hals hat, der von dem Exorzisten gehalten wird.

Wie könnte man interpretieren, warum Grünewald denselben Vorgang, wie er auf den Abbildungen 12, 13, 14 und 15 wiedergegeben ist, in einer anderen, bzw. realisterischen Darstellung zum Ausdruck gebracht hat?

Die christliche Kunst des Mittelalters begnügt sich nicht mit der vordergründigen materiellen Tatsächlichkeit der Welt. Dem rationalen Erscheinungsbild, das dem Betrachter einen Guckkasten anbietet, in dem sich die gewohnten Verhältnisse seines Erfahrungsraumes fortsetzen, zieht sie das irrationale Sinnbild vor. Sie strebt nach Transzendenz, nicht nach Immanenz. So entstehen metaphorische Situationen, in denen weder die Größenordnungen noch die Raumbeziehungen der empirischen Welt Gültigkeit haben - es gibt keinen verbindenden Maßstab, keine Erfahrungsbrücke, die von unserer in jene Welt zu führen vermöchte. Das Sinnbild hat grundsätzlich die Dimensionen des Ganz-Anderen, seine innerbildliche Ordnung ist schlechthin unbetretbar. Gewiss zeigt es uns Menschen, Tiere und Gegenstände, doch stehen seine Protagonisten gleichsam in einer außerweltlichen, transempirischen Beziehung zueinander. Was sie verbindet, ist ein Bedeutungskonnex, das Teilhaben an geistigen Zusammenhängen. Darin äußert sich der bildschriftliche Charakter der symbolischen Kunst, sie will gelesen und interpretiert werden.46

Mit dem Beginn der Gotik im 12. Jahrhundert kündigt sich die Umkehr die neuerliche Hinwendung zur organischen und empirischen Wirklichkeit an. Das erste Symptom dieses Prozesses ist die Befreiung der menschlichen Figur zur Rundplastik. Damit entsteht nicht nur eine Formkategorie, die dem Mittelalter fremd war, damit wird ein tief greifendes Bekenntnis zum Selbstwert der körperlich-materiellen Erscheinung abgelegt, wird die Richtung eingeschlagen, an deren Ende "Schönlebendigkeit", "Natürlichkeit" und "Lebenswahrheit" stehen werden. ... In der "imago dissimilis" des vorgotischen Mittelalters wurde ein Bedeutungskonnex behauptet - nun tritt zwischen Kunstwerk und Wirklichkeit ein anderes, mehr und mehr rational nachvollziehbares Bindeglied: der Ähnlichkeitskonnex. In dem Maße, in dem dieser seine Herrschaft ausbreitet, weicht jener zurück.47

Grünewald ist einerseits noch in starkem Maße der Tradition des Mittelalters verhaftet. Andererseits sind bei ihm deutlich Zeichen des neuen, sich etablierenden Realismus zu erkennen, so wie auch auf dem Gemälde des Heiligen Cyriakus.

Zusammenfassend kann aufgrund der hier dargelegten Überlegungen festgestellt werden, dass eine Schock-Therapie seit der Antike bis in unsere Zeit bei psychisch besonders schwer erkrankten Menschen angewandt wird. Auf dem Gemälde Grünewalds scheint auf eine sehr realistische Art eine spezielle Form der Schock-Therapie dargestellt zu sein, wie sie im ausgehenden Mittelalter und wohl auch früher und später praktiziert wurde.

 


1 Salm, Chr. Altgraf: Grünewalds Flügel zum Heller-A1tar. In: Münchner Jahrbuch der Bildenden Kunst. 3. Folge, Bd. 2, 1951, S. 118-123.

 

2 Weizsäcker, H.: Die Kunstschätze des ehemaligen Dominikanerklosters zu Frankfurt a. M., München 1923, S. 28.

 

3 Vetter, E. M.: Die "Hellerflügel" Grünewalds und das Verklärungs-Retabel der Dominikaner in Frankfurt. In: Jahrbuch der Staatlichen Kunstsammlung in Baden-Württemberg. Bd. 13, München, Berlin, 1976, S. 25-54.

 

4 Zülch, W. K.: Der historische Grünewald. München 1938, S. 114.

 

5 Behling, Lottlisa: Matthias Grünewald. Königstein im Taunus, 1969, S.10.

 

6 Vrgl. Salm, l. c., S. 121 f.

 

7 Jacobus de Voragine: Die Legenda aurea. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz.10. Auflage, Heidelberg 1984, S. 562-564.

 

8 Lahrkamp, H.: Die vierzehn Nothelfer im deutschen Sakralraum. In: Die vierzehn Nothelfer in Volksfrömmigkeit und Sakralkultur. Hrsg.: R. Klebelsberg. Innsbruck 1959, S. 123-124.

 

9 Sachs, H., Badstübner, E., Neumann, H.: Erklärendes Wörterbuch zur Christlichen Kunst. Leipzig, Berlin. Ohne Jahreszahl, S. 89.

 

10 Kühn, W.: Grünewalds Isenheimer Altar als Darstellung mittelalterlicher Kräuter. In: Kosmos 44 (1948),S. 327-333.

 

11 So zeigte Herr Prof. Dr. Dr. H. Heintel dieses Bild Grünewalds auf dem 20. Internationalen Kongress für Geschichte der Medizin, Berlin 1968, als Beispiel zu seinem Vortrag: Grundzüge einer Ikonographie des Epileptikers;

sowie auch Behling, l. c., S. 10, sowie Fraenger, W.: Mathias Grünewald, Dresden, 1985, S. 212-213, sowie "Epilepsie im Bild". Darstellungen zur Fallsucht aus sechs Jahrhunderten. Eine Dokumentation der Geigy Pharma, von Daniela Maria Brandt, mit einem Vorwort von Dr. med. Hansjörg Schneble. Ohne Jahreszahl, S. 48-49.

 

12 Markus 9, 14-29: Und sie kamen zu den Jüngern und sahen viel Volks um sie und den Schriftgelehrten, die sich mit ihnen stritten. Und alsbald, als alles Volk ihn sah, entsetzten sie sich, liefen herzu und grüßten ihn. Und er fragte sie: Was streitet ihr euch mit ihnen? Einer aber aus dem Volk antwortete: Meister ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, so reißt er ihn; und er schäumt und knirscht mit den Zähnen und wird starr. ...Und sie brachten ihn her zu ihm. Und alsbald, da ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde und wälzte sich und schäumte. Und Jesus fragte den Vater: Wie lange ist es, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. ... Da nun Jesus sah, dass das Volk herzulief, bedrohte er den unsauberen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser Geist, ich gebiete dir, dass du von ihm ausfahrest und fahrest hinfort nicht in ihn! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe ward, als wäre er tot, so dass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.

Vgl. auch Lukas 9, 37-42, Mathäus 17, 14-18, sowie Schneble, H.: Krankheit der ungezählten Namen. Bern, Stuttgart, Toronto.1987, S.14.

 

13 Lukas 8, 26-37: Und sie fuhren weiter in die Gegend der Gerasener, welche ist Galiläa gegenüber. Und als er an das Land trat, begegnete ihm ein Mann aus der Stadt, der hatte böse Geister und tat von langer Zeit her keine Kleider an und blieb in keinem Hause, sondern in den Grabhöhlen. Da er aber Jesus sah, schrie er auf und fiel vor ihm nieder und rief laut und sprach: Was willst du von mir, Jesus du Sohn Gottes, des Allerhöchsten? Ich bitte dich, du wollest mich nicht quälen. Denn er gebot dem unsauberen Geist, dass er von dem Menschen ausführe. Denn er hatte ihn lange Zeit geplagt, und er ward mit Ketten und Fesseln gebunden und festgehalten und zerriss seine Bande und ward getrieben von dem bösen Geist in die Einöde. Und Jesus fragte ihn und sprach: Wie heißest du? Er sprach: Legion. Und es waren viele böse Geister in ihn gefahren. Und sie baten ihn, dass er sie nicht heiße in die Hölle zu fahren. Es war aber daselbst eine große Herde Säue auf der Weide an dem Berge. Und sie baten ihn, dass er ihnen erlaubte, in sie zu fahren. Und er erlaubte es ihnen. Da fuhren die bösen Geister aus von dem Menschen und fuhren in die Säue, und die Herde stürzte sich von dem Abhang in die See und ersoff. Da aber die Hirten sahen, was da geschah, flohen sie und verkündeten's in der Stadt und in den Dörfern. Da gingen sie hinaus, zu sehen, was da geschehen war, und kamen zu Jesus und fanden den Menschen, von welchem die bösen Geister ausgefahren waren sitzend zu den Füßen Jesu, bekleidet und vernünftig, und erschraken. Und die es gesehen hatten, verkündeten's ihnen, wie der Besessene war gesund geworden. Vgl. Matthäus 8, 28-34; Markus 5, 1-10, sowie Starobinski, J.: Besessenheit und Exorzismus. Frankfurt/M., Berlin, Wien,1978, S. 82-140, besonders S. 110-116.

 

14 Eis, G.: Altdeutsche Zaubersprüche. Berlin, 1964, S. 16.

 

15 Schipperges, H.: Melancolia als ein mittelalterlicher Sammelbegriff für Wahnvorstellungen. In: Studium generale 20 (1967), S. 723-736.

 

16 Zitiert bei Behling, L.: Die Pflanze in der mittelalterlichen Tafelmalerei. 2. Auf1., Köln, Graz, 1967, S. 141.

 

17 Sigerist, H.: Studien und Texte zur frühmittelalterlichen Rezeptliteratur. Leipzig, 1923 (= Studien zur Geschichte der Medizin, Heft 13), S. 168-186.

 

18 Zit. bei Behling, l. c. S. 141.

 

19 Mündlich Mitteilung von Herrn Nervenarzt Patras.

 

20 Franz, A.: Die kirchlichen Benediktionen im Mittelalter. Unveränderter Abdruck der 1909 in Freiburg erschienen Ausgabe. Graz 1960. Bd. II , S. 573.

 

21 Tuchmann, B.: Der ferne Spiegel. München 1985, S. 97-125, sowie

Friedell, E.: Kulturgeschichte der Neuzeit. Ungekürzte Ausgabe in zwei Bänden. 3.Aufl., Deutscher Taschenbuch Verlag 1980, Bd. I, S. 95 ff.

 

22 Franz, l. c. S.566.

 

23 Roskoff, G.: Geschichte des Teufels, Bd. II., S.187, 1869 Unveränderter Wiederabdruck bei Franz Greno, Nördlingen 1987.

 

24 Franz, l. c. S. 571

 

25 Scheid, W.: Lehrbuch der Neurologie. Stuttgart, New York 1980, S. 207 f.

 

26 Prokop, O.,W. Götzler: Forensische Medizin.3. Aufl., Stuttgart, New York 1976, S. 106 f. Hier auch das Zitat von Hufeland.

 

27 Zitiert bei Prokop, l. c., S. 107.

 

28 Zitiert bei Prokop, l. c., S. 107.

 

29 Zitiert bei Prokop, l. c., S. 107.

 

Ebenda, S. 107, Scheid, l. c., S. 332 f.

 

30 Bleuler, E.: Lehrbuch der Psychiatrie. 11. Aufl., umgearbeitet von M. Bleuler. Berlin, Heidelberg, New York 1969, S.159 f.

 

31 Sauer, H. u. H. Lauter: Elektrokrampftherapie. In: Nervenarzt 58, (1987), S 201-218, sowie Bleuler, l. c. , S. 159 f.

 

32 Roback, A.: Weltgeschichte der Psychologie und Psychiatrie. Übers. von K. Thiele-Dohrmann, Olten 1970, S. 293 f.

 

33 Starobinski, J.: Geschichte der Melancholiebehandlung, Basel, 1960, S. 22-23.

Hier auch das Zitat: Celsus, Aulus Cornelius: De Arte Medica, III, 18.In: Corps medicorum Latinorum. Bd. I., Hrsg.: Marx, F., Leipzig, Berlin, 1915.

 

34 Harms, E.: Origin and early History of Electroshock. In: Am. Journal Psychiatry 12,1955, S. 933; zitiert bei Langegger, F.: Doktor, Tod und Teufel. Frankfurt/M. 1983,S. 100.

 

35 Manninen, I.: Die dämonistischen Krankheiten im finnischen Volksaberglauben. In: Folklore Fellows Communications, Nr. 45, 1922, Helsinki, zitiert bei Langegger, l. c ., S. 100.

 

36 Foucault, M.: Wahnsinn und Gesellschaft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt/M., 1973, S. 334.

 

37 Manninen, I.: Die dämonistischen Krankheiten im finnischen Volksaberglauben. In: Folklore Fellows Communications, Nr. 45, 1922, Helsinki, zitiert bei Langegger, l. c. , S. 101.

 

38 Reil, Johann Christian: Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803,5. 236, zitiert bei Langegger, l. c., S. 101.

 

39 Heinroth, F. C. A.: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens der Seelenstörungen und ihrer Behandlung, Bd. II, Leipzig 1818, S. 141, zitiert bei Langegger, l. c. , S. 101.

 

40 Kraepelin, E.: Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte, Leipzig, 1909, S. 999, zitiert bei Langegger, l. c., S. 101

 

41 Foucault, l. c., S. 316 f.

 

42 Zitiert nach: Israel, L.: Die unerhörte Botschaft der Hysterie, aus dem Französischen von Müller, P. u. P. Posch, Basel 1987, S. 21 sowie S. 234.

 

43 Basaglia, F., Hrsg.: Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. 1971, S. 122 f.

 

44 Kluge, F.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 21. Aufl., Berlin, New York, 1975, Stichwort: Unbändig.

 

45 Eis, l. c., S.22 f.

 

46 Hofmann, Werner: Grundlagen der modernen Kunst. Alfred Kröner Verlag,1966, S. 88.

 

47 Ebenda, S.104.

 

 

 

 

 

 

 

Anschrift des Verfassers: Dr. med. R. Mathias Dunkel

                                        Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie

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                                          http://www.drrmdunkel.com

 

 

 

Abbildung 2:

Mathias Grünewald: Heilige Lucia oder Heilige Ottilie, untere Tafel eines festen Flügels vom Heller­-Altar. Karlsruhe, Städtische Galerie.

Abbildung 3:

Mathias Grünewald: Heilige Elisabeth, untere Tafel eines festen Flügels vom Heller-Altar. Karlsruhe, Städtische Galerie.

Abbildung 4:

Mathias Grünewald: Heiliger Laurentius, obere Tafel eines festen Flügels vom Heller-Altar. Frankfurt/M. Städelsches Kunstinstitut.